Mittwoch, 20. Mai 2015

Schlaflos, planlos, ratlos. Von nächtlichem Unfug.



Von jetzt an gibt es bei mir nur noch zwei Stadien von körperlichem Zustand. Es gibt die Zeiten, in denen ich eine wandelnde Schlaftablette bin, weil im Kopf mal wieder so überhaupt nichts stimmt und man ein paar neue Medikamente kreuz und quer mixt, weil das ja auf wundersame Weise die neue Superformel sein könnte. Das sind die Wachkoma-Zeiten, in denen mich sogar ein Sandkorn umhauen könnte und ich wochenlang gar nicht richtig wach werde. Ab und zu mal wieder etwas Neues probieren. Das gehört eben dazu.

Dann gibt es wieder Zeiten, in denen haben die Tage plötzlich 20 Stunden. Endlose, wache Nächte. Nicht, dass ich nicht müde wäre. Mein Körper fühlt sich an wie ein 200 Jahre altes Schiffswrack auf dem Meeresboden, aber mein Kopf will mir wohl sagen: "Wenn du nur lange genug wach bleibst, dann finden wir schon eine Lösung für alles."

So ein Blödmann. Der hatte ja nun wirklich schon genug angerichtet mit seinem Tumor. Der sollte mal schön den Ball flach halten.

Schlafmittel lehnte ich kategorisch ab. "Nein danke." Noch auf den ganzen Haufen Pillen mit drauf? Gerade erst war ich doch mein aufgedunsenes Gesicht losgeworden. Das ließ sich irgendwie anders lösen.

Oder auch nicht. So musste ich mich also erstmal mit nicht enden wollenden Nächten herumschlagen und bald merkte ich, das war ein hartes Stück Arbeit.

Langsam begriff ich, was mein Kopf mir sagen wollte: "Jetzt denk mal drüber nach. Was ist denn so alles passiert mit dir? Aufarbeiten und verarbeiten. Wir haben die ganze Nacht Zeit. Ansonsten ist morgen auch noch eine Nacht und übermorgen auch. Ich kann das Spielchen ewig spielen."

Mit meinem Kopf war ich seit diesem Tumor nicht mehr sehr freundschaftlich verbunden. Zur Adoption freigeben, dafür waren die Forschung und die Welt aber noch nicht bereit.

Also: Ausharren. Dem würde ich es zeigen. Mal wieder. Ich hatte den längeren Atem. Aufarbeiten und Verarbeiten waren totaler Quatsch, beschloss ich. Also ablenken, auch von den Schmerzen. Super Plan. Fernseher an? Das hatte ich schon lange nicht mehr gemacht.

Halbnackte Frauen, die sich am Finger lutschen. Super erotisch. Anrufen konnte man die auch noch. Wäre ich ein Mann, dann hätte ich das sicher sofort getan. Wäre bestimmt gut investiertes Geld gewesen in intensive, tiefgründige Gespräche. Da hätte ich bestimmt Einiges aufarbeiten können. Zu dumm, dass ich eine Frau war. Also Fernseher wieder aus.

Ein neuer Plan musste her. Es fiel alles von der Liste, was geistig anspruchsvoll war. Meine Gehirnfunktionen waren auf das Minimum reduziert. Schlaflosigkeit, Schmerzen und Medikamente führten zu beträchtlichen kognitiven Ausfällen. Vielleicht hätte ich doch das Telefon in die Hand nehmen sollen. Eine der halbnackten Frauen hätte mich sicher verstanden. Natürlich hätte sie das. Für fünf Franken die Minute.

Aber was sah ich da auf meiner Terrasse? Meine tote Yucca-Palme, die bereits vor einem halben Jahr gestorben war, nun langsam in der Ecke vor sich hin verweste und erheblich mein Landschaftsbild störte. Es sammelte sich so Einiges an, seitdem ich wegen des Mistkerls in meinem Kopf nicht mehr fahren konnte und mein Auto verkaufen musste. Beim Anblick der Yucca-Palme formte sich nun aber ein Plan in meinem Kopf.

Erstmal eine Extradosis Schmerzmittel nehmen und die Wirkung abwarten. So würde der Plan sicher von ganz alleine kommen.

Schon besser. Was war da noch mal? Ach ja, die Palme! Ab in den Wald. Gut, dass der direkt vor der Haustüre lag.

Ob das alles so eine gute Idee war? Erstmal musste die Palme sowieso von der Dachterrasse irgendwie nach unten kommen.

Erstes Problem dieser ganzen Aktion. Nun saß ich da mit "echten" Problemen, und irgendwie sah die Welt schon wieder ein bisschen schöner, versöhnlicher aus.

Prompt hatte ich aber die Lösung. Das Schmerzmittel schien zu wirken.

Da flog sie auch schon runter aus dem zweiten Stock und landete in der nächtlichen Stille vor der Haustüre. Ich folgte ihr, nahm aber sicherheitshalber nicht denselben Weg, sondern das Treppenhaus.

Unten angekommen schaute ich den dunklen Weg entlang in Richtung Wald. Dort sollte die Yucca-Palme ihre letzte Ruhe finden. Es flammte kurz der Gedanke in mir auf, dass diese ganze Aktion ziemlich absurd war und ich es doch mal mit Schlaftabletten versuchen sollte. Zu spät. Meine Entscheidung stand fest.

So schleifte ich die Palme auf dem immer dunkler werdenden Feldweg hinter mir her in Richtung Wald. Das mit dem Gleichgewichtsproblem, dem Gesichtsfeldausfall und der Palme im Schlepptau war keine gute Kombination. Wo war denn eigentlich der Mond, wenn man ihn brauchte?

Herrlich beruhigend war, dass meine Stürze außer meiner Palme und der Sterne am Himmel niemand sah. Der Mond schien ja Urlaub zu haben.

Hatte ich nicht früher mal Angst im Dunkeln? So ein Tumor schien alle anderen Ängste wohl in Luft aufgelöst zu haben.

Mitten im Nirgendwo, nur mit einer Yucca-Palme als Verteidigung – so langsam kam ich mir doch ein bisschen seltsam vor. Ich sollte schleunigst die Palme entsorgen und verschwinden. Sorgen machen, dass mich jemand sieht, musste ich mir aber wohl kaum machen. Wer sollte jetzt schon auf dieselbe Idee kommen, sich hier rumzutreiben.

Andererseits. Man wusste nie.

So, ins Dickicht schmeißen und dann ab nach Hause.

Ich schlief sofort ein. Aus Erschöpfung? Aus Verwirrung wegen meines nächtlichen Ausflugs Vielleicht hatte ich meine Angst einfach für einmal im Wald lassen können und habe sie mit der Palme weggeworfen.

Das schafft eben die beste Schlaftablette nicht. So etwas schafft manchmal doch nur die Natur und eine große Menge Unfug.

3 Kommentare:

  1. Wie Du damit umgehst ist schon bewundernswert, auch wenn es nicht immer leicht ist für uns Betroffenen. Erst wenn man selbst in den Genuß kommt sieht man was Du da alles von Dir gibst und wie ich manches auch auf mein Leben übertragen könnte. Aber dies so zu schreiben würde mir niemals in den Sinn kommen.
    Ich wünsch Dir für die Zukunft alles, alles Gute!
    LG Marcel

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  2. Ich seh deine zerzauste Yucca-Palme deutlich vor mir :-). Wir müssen unbedingt mal zum Hagenholz mit deinem restlichen "Balkon-Schrott".

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    1. Ja bitte, unbedingt! Dürfte ich noch Auto fahren wäre natürlich niiiiemals so ein Schrottplatz bei mir entstanden und ich würde nachts brav im Bettchen liegen ;)

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