«Und die Meere», sagte das Einhorn wie von einem Blitz aus
seiner träumerischen Lethargie gerissen, «entstammen sicher auch nicht aus den
Bergen, sondern kommen wohl eher aus euren unendlichen, menschlichen
Tränenmeeren. Die Liebe, die Liebe und immer die Liebe.
Wie schafft ihr Menschen es nur schon seit Jahrtausenden,
dieses ewig gleiche Gejammer zu ertragen?»
«Aber es gibt doch aber auch Menschen, die sind ewig
zusammen», entgegnete ich auf seine etwas gar verspätete Antwort auf meinen
Liebeskummer.
«Es gibt auch Menschen, die können einen Purzelbaum machen»,
war seine Antwort und wollte meiner Tirade anscheinend mit einem Reim ein Ende
machen, denn er ließ sich nur ungern von menschlichen Problemen aus seiner
Traumwelt entführen.
«Was weißt du schon von deinem komischen Planeten?»,
fragte ich schmollend und wollte doch nur seinen kosmischen Rat.
«Wir schweben auf Gaswolken auf meinem Planeten. Dort in
der Schwerelosigkeit machen wir uns keine Sorgen. Wir denken nicht ständig den ganzen
Tag an morgen und schon gar nicht erst an übermorgen», antwortete es verträumt
in Erinnerungen schwelgend an seinen weit entfernten Heimatstern.
Ich geriet bei seinen Worten förmlich mit ins Schwelgen und
fragte:
«Nimmst du mich mit auf deinen schwerelosen Planeten? Wie
herrlich wäre es auf Gaswolken zu schweben.»
«Das geht leider nicht, mein treuer Freund, denn du hast
schon einen eigenen Planeten und auch er hat dir herrliche Dinge zu bieten. Ihr
habt den Wind, die Sonne, das Meer, und auch habt ihr die Berge und auch die
sind gar nicht so fern.
Schau nur genau mit deinem Herzen, dann kannst auch du dich
in einem Zustand der Schwerelosigkeit bewegen, anstatt dich mit düsteren
Gedanken zu quälen und ständig mit deinem Kummer zu plagen.»
Nun konnte ich meinen phantasievollen Freund, dem Einhorn,
nicht mehr folgen.
«Wo bitte soll das denn sein?», fragte ich verdutzt.
«Diesen Ort kann es auf dieser Welt nicht geben, ohne mit
ein paar Wundermitteln nachzuhelfen.»
«Dein Kopf steckt in einer Spirale von Trübsal fest und
lässt dich verschlingen von sinnlosen Gedanken. Sie kreisen irgendwo in einem
luftleeren Raum, in denen die schönsten Gedanken keine Möglichkeit zum Atmen
haben und sich in herrlichen Dingen zu entfalten», sinnierte es.
«Was schlägst du vor? Was soll ich tun?»
Seine philosophischen Ergüsse konnte ich nicht mehr lange
ertragen. Ich wollte nun endlich meine Antwort haben.
«Du musst dich wieder auf dich besinnen und dich nicht in
verlorenen Romanzen verrennen oder wehmütig unerfüllten Träumen nachtrauern,
während auf dieser Welt die Zeit ohne dich weiter rennt und dich ganz bestimmt
nicht eines Tages fragen wird, wenn du alt und grau vom ganzen Grübeln bist, ob
du nochmal eine Runde leben willst.
Die Welt hat noch unendlich mehr zu bieten, als nur die
Trauer um verlorene Lieben.»
Nun bekam ich es aber mit der Angst zu tun. Hatte ich nicht
schon gar allzu viel Zeit verloren?
«Zeigst du mir die Wunder, die mich befreien?», bat ich das
Einhorn und hoffte mich von der Leere, die in mir herrschte, dadurch wieder
loszusagen.
«Sie liegen eigentlich alle vor deinen Augen, doch diese
sind vor lauter Gedankenquälerei für diese wunderbaren Bilder blind geworden.
Wir können gerne gemeinsam eine Reise in die Welt unternehmen und ich helfe dir
den Nebel zu lichten und wieder zu sehen. Dafür müssen wir gar nicht mal sehr weit
reisen, denn wir können eigentlich gleich hier beginnen.»
So verliessen wir das Haus an diesem goldenen
Septembermorgen und ich machte mich auf, auf eine unbekannte Reise.
Wir machten Halt auf einer sonnigen Bank, an einem Waldrand
und blickten auf die Felder in der Ferne.
So sassen wir eine schweigend dort. Schließlich fragte das
Einhorn: «Sag mir, was du siehst. Was geht wohl in dir vor, wenn du auf dieser
Bank Waldrand sitzt?»
«Ich sehe die Felder, die Sonne, den Wald.» Was mehr sollte
ich sagen? Wir sassen einsam auf einer Bank, die Stadt in der Ferne. Viel gab
es hier nicht zu sehen. Wollte mich das Einhorn in der Einsamkeit und der
Stille mit meinem Kummer quälen?
«Du bist gefangen in deinem Kummer. Nun öffne nicht nur die
Augen, sondern auch deine anderen Sinne. Wir gehen jetzt gemeinsam auf eine
Reise. Bist du bereit und nimmst dir die Ruhe und die Zeit?»
Und so versuchte ich mit allen Sinnen seinen Worten zu
folgen.
Das Einhorn begann mit unserer Reise:
«Wir sitzen nicht nur auf einer Bank und schauen in die
Ferne, in eine Leere.
Wir sind Teil dieser Erde und schauen dem Wolkenspiel am
Himmel zu. Auch sie sind auf einer Reise, vielleicht in entfernte Länder. Dort
von oben am blauen Himmel sagen sie auf ihrem Weg uns beiden hier unten kurz
«Hallo».»
Gedankenverloren betrachtete ich das Wolkenspiel. Auf
welchem Weg waren sie wohl? Das hatte ich mich noch nie gefragt. Das Einhorn
erzähle weiter.
«Spürst du die wärmenden Strahlen auf deiner Haut? Die
Sonne grüsst uns damit weit entfernt aus eurer Galaxie, der Milchstrasse zu.
Sie steht bereits tief und erinnert euch daran, dass die Jahreszeiten sich bald
die Hände geben und zumindest auf dieser Erdhalbkugel eine neue Jahreszeit
einläuten.
Ohne Hast, denn sie schenkt euch dieses Jahr einen goldenen
Herbst und einen schleichenden Abschied vom herrlichen Sommer.
Und so erinnert uns die Sonne auch an eine Reise, denn sie
gehört eben nicht nur euch, sondern dem ganzen Universum und so dreht die Erde
sich Jahr für Jahr weiter und die Sonne kann die andere Seite eurer blauen Erde
grüssen und eine neue Jahreszeit alle Jahre wieder einläuten.
Spürst du bereits den
feinen, lauen Wind auf deiner Haut? Siehst du die langsam rot werdenden
Baumkronen, die ihre Farben wechseln, um sich schliesslich endgültig von ihren
Blättern zu trennen? Riechst du den Duft des Laubes, den euch nur der herrliche
Herbst schenkt, um eure Sinne noch einmal vor dem Winter zu belohnen?
Dies ist kein Abschied für ewige
Zeiten. Dies sind einfach nur die Jahreszeiten.»
Ich sog die Luft in meiner
Nase auf, ich nahm mit meinen Augen die bunten Herbstfarben auf. Wie war ich
nur so blind geworden? Wieso konnte ich nicht selber am Waldrand auf einer Bank
in der Natur verweilen und anstatt zu Grübeln und zu Trauern einfach nur meine
Sinne mit dieser wunderbaren Natur belohnen?
«Doch bald kommt der Winter
und mit ihm die Dunkelheit», überkam mich plötzlich der düstere Gedanke und
teilte ihm dem Einhorn mit.
«Siehst du das Blatt, was
durch die Lüfte weht? Es will uns vielleicht sagen, es will sich seinem
Schicksal noch nicht beugen, möchte noch ein kurzes Tänzchen Richtung Himmel
machen, noch ein bisschen die Welt entdecken, in Einklang mit den Winden
schweben, auch die Elemente spüren, bevor es sich in den ewigen Winterschlaf auf
die Erde niederlegt.»
Ich folgte ihm mit meinem
Blick, dem rötlich leuchtenden Blatt, das der Baum schon abgeschüttelt hatte
und nun auf die Erde fallen sollte.
Ein Blatt, das seinem Schicksal trotzte, das noch die Welt
entdecken wollte?
Es schien tatsächlich schwerelos im Wind zu tanzen und immer
wieder neuen Auftrieb in luftige Höhen zu finden. Ich folgte dem Blatt noch
eine Weile mit den Augen im Winde gleiten, bis es mit einer letzten, grossen
Windböe noch einmal in die Lüfte sauste und dann schließlich sanft in einem
bunten, herbstlichen Blätterhaufen zur Ruhe legte.
«Wie gerne wäre ich das Blatt gewesen, um mich einmal schwerelos
im Winde zu bewegen», sagte ich verträumt zum Einhorn.
«Du kannst auch mit deinen Sinnen fliegen, deine Probleme dem Wind
übergeben. Er trägt ihn fort an einen anderen Ort und du bleibst hier auf
deiner Bank», entgegnete das Einhorn.
Der Wind wehte sanft durch mein Haar, zog über die Felder mit
unbestimmtem Ziel. Warum waren meine Sinne so lange versteckt? Waren sie im
Winterschlaf und hatten vergessen wieder zu erwachen?
«Nun richte den Blick zu den Bergen, dort in der Ferne», sagte das
Einhorn.
Ich tat, was mir mein weiser Freund aus einer fremden Welt nun sagte.
«Ja, diese Berge. Sie schränken meinen Blick und meine Sicht auf
die Welt ein.
Ich habe manchmal das Gefühl ein Gefangener zu sein. Mein Blick
ist getrübt, ich liebe das Meer.»
«Doch denke weiter. Was wartet noch auf dich? Hinter diesen Bergen
sind nicht die 7 Zwerge. Dort wartet das Meer und ist es auch jetzt im Moment
entfernt so schließe deine Augen und benutze die Fantasie.
Spürst du die Brise, hörst du da Rauschen? Benutze auch deine
Ohren und versuche zu lauschen.
Es gibt Zeiten, da möchte man sich verkriechen, doch mit viel
Fantasie kann man ihnen entfliehen. Du kannst überall sein, wo du nur willst.
Tanzen am Stand oder in den Wellen reiten. Man muss nicht immer
die ganze Welt umrunden, um für ein paar Stunden ein wenig Glück zu finden. Entweder
in der Fantasie oder direkt vor deiner Tür. Denke nicht so viel, denke nicht
immer an das Ziel.
Auch auf einer Schaukel durch die Lüfte schweben, wieder Kind sein
und diese Freiheit spüren kann schon manchmal das grösste Glück auslösen, sonst
kann man nicht ausgelassen dabei lachen, was ihr Menschen als Kinder immer
gemacht habt. Das Erwachsen werden beraubt euch aller Fantasie. Du weißt, dass
nichts von deinen Wünschen vom Himmel fällt. Wäre die
Erde ein friedlicher Ort, dann wäre sie voller Einhörner, Frieden und Gold.
Doch du bist nun mal auf einem Planeten geboren und da sind diese Dinge nicht
gegeben. Ich weiß nicht wie lange es noch braucht, bis ihr merkt, dass es
einfach nur Zusammenhalt baucht.»
Das Einhorn war plötzlich weg, bemerkte ich mit Schreck. Hatte ich
etwa nur phantasiert?
Doch auch mein Kummer war plötzlich fort und ich fühlte mich in
diesem Moment von allen unnötigen Sorgen befreit.
Hier in der Natur schöpfte ich Mut.
Das Einhorn hatte recht. Was sind schon sinnlose Sorgen?
Sie verderben dir nur die Freude auf den nächsten Morgen.
Vielleicht mit Sonnenschein und neuen Menschen.
Nicht mit alten Lasten und ständigem Grübeln, sondern mit neuen
Geschichten und lachenden Gesichtern.
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